840 Seemeilen – Englischer Kanal und Biskaya

Wir sind aufgeregt – mit etwas Glück hält der angekündigte Wind wie versprochen und schaffen wir es in einem Rutsch von Scheveningen in den Niederlanden bis A Coruña in Galizien, Spanien. Theoretisch 750 Seemeilen, je nach Wind und Kurs auch mehr. Die Bilge ist voll mit Gemüse und Obst, der Kühlschrank gut gefüllt. Es fehlen nur noch die üblichen Kontrollen vor Abfahrt, die wir dieses Mal sehr gewissenhaft ausführen: Diesel- und Ölstand, Batterieladezustand, Kühlwasserfilter, Frischwasser, Rigg – Check!

Zusammen mit unseren Bekannten aus Enkhuizen, die mittlerweile auch in Scheveningen angekommen sind, fachsimpeln wir noch etwas über die wohl beste Route vorbei an den großen Häfen von Rotterdam und Antwerpen und trinken einen letzten gemeinsamen Kaffee. Am frühen Abend lösen wir dann die Leinen und tuckern hinaus aus dem Hafen.

Die Fahrt beginnt gut, 6 Bft. wehen aus Nord, wir machen mit gerefften Segel ordentlich Fahrt. Später am Abend werden die Wellen immer höher, sie türmen sich vor unserem Boot auf, heben uns an, lassen uns in die Wellentäler hinab rauschen. Das Wasser schlägt gegen die Rümpfe und unter das Brückendeck. Ein wenig mulmig ist uns schon, aber zum Nachdenken bleibt wenig Zeit. Vor uns befindet sich ein großer Kreisverkehr auf dem Wasser, den die Niederländer vor Rotterdam eingerichtet haben. Von hier verlaufen diverse Einbahnstraßen für die Großschifffahrt, sogenannte Verkehrstrennungsgebiete, in alle möglichen Richtungen. Als Sportboot dürfen wir am äußersten Rand dieser Einbahnstraßen fahren, wenn wir sie kreuzen wollen, dann nur im rechten Winkel und somit auf dem schnellsten Weg. Insgesamt klappt es inmitten der Großschifffahrt mit Radar und AIS (Automatisches Identifizierungssystem) sehr gut, auch später in der Nacht und im weiteren Verlauf der Fahrt.

Philipp übernimmt die erste Wache von 22 bis 2 Uhr, während Anne in die Koje krabbelt. Durch das ständige Auf und Ab in den Wellen und die Geräuschkulisse ist an Schlaf nicht zu denken, erst als die KISS gegen Mitternacht den Kurs nach Süden ändert und der Wind und die Wellen von Achtern kommen, wird es ruhiger. Wir rauschen nun in der Spitze mit 10-11kn nach Süden, so darf es gerne weiter gehen!

Am nächsten Morgen nehmen Wind und Welle etwas ab, wir bergen das Großsegel und segeln unter Genua vor dem Wind. Der Vormittag verläuft eintönig, wir sehen kaum andere Schiffe. Dafür können wir uns nun etwas von den Strapazen der Nacht erholen und den verpassten Schlaf nachholen. Am Nachmittag tauchen dann am Horizont die Kreidefelsen von Dover vor uns auf, sie werden uns noch bis in den Abend hinein begleiten. Das Wasser strahlt währenddessen in einem hellen grün, eine willkommene Abwechslung nach dem Braun des Wattenmeers und dem dunklen Blau-Grau der Nordsee. Wir freuen uns auf die Blau- und Türkistöne weiter südlich!

Auch die folgende Nacht und der darauffolgende Tag verlaufen ereignislos, wir segeln vor dem Wind, mal nur unter Vorsegel, dann unter Vollzeug oder auch mal gerefft, die Küste Südenglands in Sichtweite an Steuerbord. Immer im Wechsel schiebt uns der Gezeitenstrom mit bzw. bremst uns aus. Langeweile macht sich breit. Die Wellen sind noch immer recht kurz, wir werden gut durcheinander geschaukelt, mehr als ein wenig Lesen und Serien gucken ist nicht möglich. Alles an Bord bewegt sich und wir gleich mit. Auf Dauer schon etwas anstrengend, noch nicht einmal einen Schrank kann man öffnen, ohne die Tür mit einer Hand festzuhalten, während man mit der anderen nach dem gewünschten Inhalt angelt. So langsam wachsen uns aber die Seebeine – wie es wohl wird, wenn man wieder an Land ist?

Schließlich kreuzen wir in unserer dritten Nacht auf See den Englischen Kanal und setzen Kurs auf Brest in Frankreich. Bis nach Frankreich rüber ist es dann doch noch ein ganzes Stück, wir kreuzen mit einem Schwedischen Großsegler vor dem Wind um die Wette (er hat nur ein Rahsegel gesetzt – wir gewinnen!) und freuen uns am Vormittag über unsere ersten Delfine auf dieser bisher doch recht langweiligen Fahrt. Beide sind wir total begeistert, wie die Tiere verspielt am Bug mitschwimmen ist einfach traumhaft! Leider begleiten uns die Delfine gefühlt viel zu kurz.

Am Nachmittag sind es dann noch 70 Seemeilen bis zur Ile D’Ousseant, wir hoffen auf Handyempfang, um uns einen finalen Wetterbericht für die Biskaya-Querung einholen zu können. Frühmorgens um 4 Uhr ist es dann soweit, Anne ist gerade auf Wache und prüft die Windprognosen – noch stets Top: Halber bis raumer Wind, 4-5 Bft. Zum Wochenende hin soll es etwas auffrischen, aber bis dahin planen wir in A Coruña zu sein. Philipp wird kurz geweckt, und nachdem er ebenfalls einen Blick auf die Wetterkarten geworfen hat, dreht sich der Bug der KISS auch schon nach Süden.

„Die Stimmung hebt sich, Wind passt, Strömung mit – endlich ein Hochgefühl nach dem Kanal. Die Sonne scheint, wir konnten zum ersten Mal seit Abfahrt draußen frühstücken.“

Aus dem Logbuch (26.08.2021/08.00 UTC)

Gegen Mittag sichten wir dann erneut Delfine, erst eine Mutter mit einem Jungtier und wenige weitere Tiere, später am Nachmittag dann ein gutes Dutzend, die uns bis in den Abend hinein immer wieder streckenweise begleiten. Das Wasser leuchtet mittlerweile richtig tiefblau und klar, man kann die Delfine schon von weitem im Wasser ausmachen. Anne ist vom Vordeck kaum noch weg zu bekommen, erst als die Dämmerung hereinbricht und man im Wasser nichts mehr erkennen kann, kommt sie wieder in den Salon.

Am nächsten Tag halten wir weiter Ausschau nach Delfinen, können aber leider keine entdecken. Gegen Abend erhebt sich dafür plötzlich eine kleine Fontäne einige 100m voraus aus dem Wasser. Sollten wir tatsächlich einen Wal gesichtet haben? Wir starren gebannt auf die Stelle und tatsächlich kommt der Blas schnell näher und können wir auch den Wal erkennen, wie er sich fast schwarz aus dem Wasser abhebt. Der Wal ist jetzt direkt voraus, wir bewegen uns keinen Millimeter von der Reling weg, selbst an ein Ausweichmanöver denken wir nicht. Unser Glück, dass der Wal stattdessen uns ausweicht. Er taucht keine 30m neben unserem Boot aus dem Wasser und bläst eine kleine Wasserwolke in den Himmel. Wir schätzen, dass er ca. so lang wie unser Boot sein müsste, also so 10-12m. Dann verschwindet der Wal achteraus, den Blas können wir aber noch einige Zeit ausmachen. Später gucken wir im Revierführer nach und einigen uns anhand der Bilder darauf, dass es wohl ein Zwergwal gewesen sein könnte.

Keine Stunde später, wir sind noch stets total überrumpelt von „unserem“ Wal, landet plötzlich ein kleiner Piepmatz direkt im Salon. Der kleine Vogel scheint völlig fertig zu sein und wir staunen nicht schlecht: bis nach Spanien sind es noch 120 Seemeilen, umgerechnet gute 220 km. Wir stellen ihm eine Schüssel Wasser hin und legen ein paar Haferflocken dazu, die er aber ignoriert. Stattdessen fliegt er verängstigt in den Steuerbordrumpf und verkriecht sich in unserem Kleiderschrank. Wir lassen ihn sitzen und hoffen, dass er außer Federn nichts im Schrank hinterlässt. Der Lärm im Rumpf scheint dem Vogel auf Dauer dann doch nicht geheuer zu sein, die restliche Nacht verbringt er im Salon unter unserer Spülschüssel, welche zum Trocknen im Abtropfsieb liegt. Am nächsten Morgen sucht er dann das Weite. Bis zum Festland sind es noch 20 Seemeilen, wir hoffen, dass er sich ausreichend ausruhen konnte!

Am Samstag um 10.20 Uhr Ortszeit heißt es dann am dritten Tag unserer Überfahrt bzw. dem sechsten Tag auf See „Land in Sicht“. Wir sind total aufgeregt und freuen uns schon riesig auf A Coruña und Galizien. Kaum sind wir um das erste Kap drumherum gesegelt, schläft dann aber der Wind ein. Landabdeckung! Wir bergen das Groß- und Vorsegel und holen stattdessen den Gennaker hervor.

Mit einem Tee machen wir es uns auf dem Vordeck gemütlich und genießen die vorbeiziehende Landschaft. Die Küste sieht spannend aus, hohe Klippen, zum Teil mit Kiefernwäldern überzogen, dazwischen Wiesen und kleinere Ortschaften. Wir freuen uns auf ausgedehnte Wanderungen. Erst einmal bergen wir aber den Gennaker, der Wind reicht selbst für unser Leichtwindsegel nicht mehr aus, und starten die Maschinen. Unter Motorkraft geht es in Richtung Hafen, unser Grinsen wird immer breiter. Wir haben es geschafft: nach 840 Seemeilen liegen der Englische Kanal und die Biskaya hinter uns und Galizien mit seinen fjordähnlichen Rias vor uns!

2 Gedanken zu “840 Seemeilen – Englischer Kanal und Biskaya”

  1. Weiter so: „Wenn nicht jetzt – wann dann“.
    Euer Vater, Achim hatte den Beginn der „Reise eures Lebens“ in einem Online – Seglerabend des SCRS angekündigt.
    Seither verfolge ich euch über AIS auf Marinetraffic/Vesselfinder.

    Alles Gute für euch
    Walter

    In zwanzig Jahren werdet ihr euch mehr
    über Dinge ärgern, die ihr nicht getan
    habt, als über die, die ihr getan habt.

    Also, werft die Leinen und segelt fort
    aus eurem sicherem Hafen.
    Fangt den Wind in euren Segeln.
    Forscht. Träumt. Entdeckt.

    Mark Twain

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